TOUCHPOINTS - Hamburg zum Anfassen

[Cortissimo] Inspiration

23.05.2019

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© LauferNeo

Elbstrand, Altonaer Balkon, Fischmarkt, Landungsbrücken — vielen dürften die Hamburger Wahrzeichen entlang der Elbe ein Begriff sein. Wer sie nicht mit eigenen Augen gesehen hat, kennt sie zumindest von Postkarten oder Fotos. Doch was passiert, wenn man den visuellen Eindruck eines bekannten Ortes für den Moment vergisst und sich stattdessen auf seine haptischen Merkmale konzentriert? Wie fühlt sich Hamburg an? Chiara Kleinke weiß es. Anfang 2019 erwarb die gebürtige Hessin den Bachelor an der University of Applied Sciences Europe in Hamburg. Im ersten Teil ihrer Abschlussarbeit — „Gefühlte Realitäten“ — beschäftigt sie sich mit den wissenschaftlichen Grundlagen und der Bedeutung des Tastsinns sowie der Möglichkeit, Menschen mit haptisch konzipiertem Design auf persönlicher Ebene zu erreichen. Die erworbenen Erkenntnisse bilden die Basis für den zweiten Teil: „Touchpoints“. Namensgebender Mittelpunkt des Projekts ist eine Erlebnisroute mit „Berührungspunkten“ entlang der Elbe: Die Route soll mit einfachen Mitteln dazu verführen, die Wahrnehmung nicht auf die Elbe, den Klang des Wassers oder seinen Geruch zu fokussieren, sondern auf haptische Elemente.

Wie fühlt sich der Moment an?

Eines dieser einfachen Mittel sind die selbstgebauten gelben Bilderrahmen, mit denen Chiara Kleinke beliebte Punkte (bzw. Fotomotive) entlang der Elbe aufsuchte, die ganz eigene Erlebnisqualitäten beinhalten bzw. „prototypische haptische Ortserfahrungen“ bieten. Clever platziert, lenkten die gelben Rahmen den Blick auf bislang Nebensächliches, machten etwas Alltägliches, etwa das Efeu am Altonaer Balkon oder den Sand des Elbstrands, zu etwas Besonderem: indem sie dazu einluden, das Alltägliche durch den Rahmen neu zu sehen und zu „be-greifen“, die Zweidimensionalität des Bildes mit der Hand zu durchbrechen und die Objekte dahinter sensorisch und motorisch zu erforschen. Wie kam die Studentin auf das Thema Haptik? Ein Anlass war eine Erfahrung, die nicht nur junge Menschen wie sie selbst, sondern alle Menschen mit einem Smartphone machen dürften: „Augenblicke der Ruhe und Schönheit nicht mehr bewusst erleben zu können“, wie Chiara Kleinke es formuliert. Zu eingenommen ist der Mensch von den audiovisuellen Reizen seiner medialen Umwelt: „Während sich der Mensch im digitalen Zeitalter immer öfter mit Benutzeroberflächen auseinandersetzt, bleiben die haptischen Erlebnismöglichkeiten begrenzt.“

Im Bann von Smartphone und Monitor

Zahlen zur Kehrseite des digitalen Fortschritts sprechen eine klare Sprache: 91 Prozent der Menschen haben ihr Handy immer in greifbarer Nähe. Durchschnittlich 88 Mal am Tag schaut jeder von uns auf sein Smartphone. Beim Live-Konzert wie beim Sonnenuntergang wird es instinktiv in die Hand genommen und die Kamera aktiviert. Schlaf- und Konzentrationsprobleme sind nur einige der negativen Folgeerscheinungen übermäßiger Smartphone-Nutzung. Das Gefühl, etwas zu verpassen, wenn man es aus der Hand legt oder zu Hause vergessen hat, kennen viele. Dabei ist alles, was wir haptisch mit dem glatten Gerät anstellen: streichen und tippen. Nicht sehr „reizvoll“. Kurzum: Unsere Sinneswelt verarmt, Augen und Ohren sind zu Ungunsten der anderen Sinnesorgane überlastet. „Reduziert man das Erleben auf den optischen Sinn, beschränkt man den Menschen in seinen Erlebnismöglichkeiten“, weiß Chiara Kleinke. Mit der Konzeption und Umsetzung ihrer Touchpoint-Route möchte sie diese Beschränkung aufheben: „Das bewusste Erleben durch die Hände soll den Tunnelblick durchbrechen und Raum für bewusste Erfahrungen schaffen.“

Bewusst erleben, bewusster leben

Die gelb gerahmten Touchpoints entlang der Elbe sind aber nicht das einzige Mittel, das die 23-Jährige für ihre „Urban Intervention“ konzipiert hat: Ein Faltposter gibt Tipps und Hintergrundinformationen zu den Orten der Touchpoints-Route, und ein eigens gestaltetes Armband erinnert den Träger daran, in alltäglichen Situationen an seinen haptischen Sinn und die in ihm angelegten Möglichkeiten zu denken. Hin und wieder trägt Chiara Kleinke das Armband noch. „Wenn ich dann beiläufig auf mein Handgelenk schaue, fühle ich automatisch bewusster, was ich in dem Moment berühre.“ Heute, nur wenige Monate nach dem Abschluss ihres Studiums, arbeitet die 23-Jährige als Junior Art Director in einer Hamburger Agentur. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt im Bereich Editorial Design. Hat sie Empfehlungen für den gelungenen Einsatz haptisch besonderer Printmedien? Eine Patentlösung gibt es nicht: „Papier mit niedriger Grammatur kann qualitativ hochwertig wirken, wenn es gezielt eingesetzt wird. Umgekehrt kann griffiges oder dickeres Papier im falschen Kontext Verwirrung schaffen oder sogar als störend wahrgenommen werden. Daher gilt es immer, seine Botschaft und sein Designkonzept zu Beginn multisensuell abzustecken, sodass am Ende die Optik und die Haptik Hand in Hand gehen.“ Es ist wichtig, dass Designer sich stärker für die haptische Wirkung von Materialien interessieren und sich diesbezüglich sensibilisieren — gerade, weil fast alles am Monitor gestaltet wird.

Die fassbaren Vorteile von Print

Entscheidend, so Chiara Kleinke, sei eine kohärente multisensuelle Kommunikation. Auch im Printbereich. „Die Wahl des Papiers, des Einbandes, einer Prägung oder Materialität sowie die Bindung kann maßgebend dafür sein, wie Inhalte zugeordnet werden. Es liegt am Designer, diese kohärent mit der Botschaft zu gestalten.“ Print darf keine Verwirrung stiften. Dass die Printbranche im digitalen Zeitalter einen Aufschwung erlebt und immer neue Möglichkeiten der Differenzierung zu digitalen Medien erforscht, ist kein Zufall. Denn der Mensch sehnt sich nach Berührung. Und als greifbare Medien haben Printprodukte die Chance, über ihre Haptik den Menschen neue, umfassendere Erfahrungen zu vermitteln. Ein Buch in der Hand entschleunigt ebenso wie der Sand vom Elbstrand, den man durch die Finger rieseln lässt. Dass wir uns darüber hinaus mehr Informationen merken können, wenn wir Texte auf Papier statt digital lesen, und wir uns in einem gedruckten Buch besser orientieren können als in einem E-Book, ist mittlerweile erwiesen. Einer der Gründe für das bessere Textverständnis beim Lesen gedruckter Texte ist, dass die Finger aktiv sind — das fanden im letzten Jahr Forscher der Universität Stavanger in einer Studie mit insgesamt 170.000 Testpersonen heraus. Mit allen Sinnen begreift es sich einfach besser.

Die Welt wird größer, wenn wir alle Sinne nutzen

Im Rahmen einer Abschluss-Ausstellung ihrer Universität hat Chiara Kleinke ihr Projekt vorgestellt. Dazu wurden reale Touchpoints an den Wänden installiert, um die ortsspezifischen Momenterfahrungen der Touchpoint-Route entlang der Elbe „nachzufühlen“. Die Erlebnistour selbst mit ihren gelben Rahmen existiert nur noch auf dem Papier bzw. in einem Video, mit dem Chiara Kleinke ihr Projekt dokumentierte — das macht aber nichts, war sie doch sowieso nicht für eine dauerhafte Präsenz konzipiert worden, sondern als Anregung, den eigenen sinnlichen Zugang zur Welt zu erweitern und den Moment zu erleben. Und das gelingt schließlich überall, auch und vielleicht vor allem in der vertrauten eigenen Umgebung. Ohne das Smartphone, nur mit den Augen und dann vor allem mit den Händen. Ganz im Moment.

www.behance.net/kleinkechibaa4


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Dr. Dieter Hilla, Bayer Aktiengesellschaft, Employee Communications/direkt/BNC